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Mein Alltag in Tokyo während des Emergency States


Was mache ich eigentlich den ganzen Tag?


🎶

On and on, 

Song für Song, 

noch kein Plan, 

momentan,

aber irgendwann komm' ich an,

ja, irgendwann komm' ich an.

🎶

(Fatoni feat. Dirk von Lowtzow: Alles zieht vorbei)


Seit ich in Japan bin, habe ich noch kein einziges Buch gelesen

 

Außer Japan-Reiseführern und Japanisch-Lern-Büchern. Und einem lustigen Taschenbuch, das mir meine Eltern als Geburtstagsgeschenk nach Japan geschickt hatten.


Man könnte denken, ich hätte kein deutschsprachiges oder lesenswertes Buch zur Hand, aber das stimmt nicht: 

"1Q84" von Haruki Murakami hatte ich in Deutschland bereits halb gelesen und es wartet hier nur darauf, von mir weitergelesen zu werden.

Ich hab zwar auch in Deutschland nicht übermäßig viel gelesen, aber fast drei Monate ohne Buch habe ich schon lange nicht mehr geschafft ... 


Woran also liegt es? Weshalb komme ich auch zu Zeiten von Corona nicht zum Lesen? Nicht mal jetzt, wo in Japan der State of Emergency ausgerufen wurde?


Tokyo im Emergency State

Lange Zeit war es in Japan ja sehr ruhig, was Maßnahmen bzgl. Corona betrifft. Während im Rest der Welt alles geschlossen und Ausgangssperren verhängt wurden, hatte der Virus in Japan lange Zeit wenig Einfluss auf unser Leben – abgesehen natürlich von Ulis wochenlangem Home Office, den fehlenden sozialen Aktivitäten, dem verschobenen Sightseeing-Programm, meinen schwindenden Jobaussichten und der ungewissen Zukunft, ... Na gut, das ist dann doch einiges an Einschränkung. Aber: Einkaufszentren, Restaurants und Bars hatten weiterhin geöffnet, meine Sprachschule ebenfalls.

 

Aber dann stieg auch in Japan die Zahl der Infizierten an, sodass Anfang April der nationale Notstand ausgerufen wurde. An sich beinhaltet dieser Emergency State keine strengen Verbote, sondern lediglich Empfehlungen an die japanische Bevölkerung. Jedoch mussten die meisten Läden in Tokyo ihre Türen schließen, ebenso wie Clubs und Bars. Restaurants haben im Moment in der Regel bis 20 Uhr (der Alkoholausschank endet um 19 Uhr) und Supermärkte sowie Convenience Stores weiterhin rund um die Uhr geöffnet.


Meine Hauptbeschäftigung: Japanisch lernen

Seit 17. Februar gehe ich 5 Tage die Woche zur Sprachschule "Genki JACS" und verbessere mein Japanisch kontinuierlich. Ich hab zwar gründlich gesucht, um die beste Schule für mich zu finden, aber ich hätte trotzdem nicht damit gerechnet, dass es sooo gut werden würde.

 

Ich bin Teil einer Klasse mit max. 8 Schülern auf dem gleichen Niveau. Im Moment sind wir zu 7. in der "Ueno"-Klasse (1 Franzose, 2 Engländer, 1 Belgier, 1 Kanadier, 1 El Salvadorianer und ich). Wir haben ca. 10 verschiedene Lehrer, immer einen Lehrer pro Doppelstunde. Jeden Tag haben wir 4x 50 Minuten Unterricht, also 2 Doppelstunden. Die Unterrichtsstunden finden immer am Stück statt, aber variieren jeden Tag in der Uhrzeit: 9:30 bis 13:00, 11:30 bis 16:00 oder 14:30 bis 18:00. 

 

In Deutschland hatten Uli und ich ja auch schon Japanisch-Unterricht, aber dort hatten wir einen sehr konservativen Lehrer, der uns im klassischen Lehrervortrag Vokabeln und Grammatik erklärt hat, bevor wir Schüler anschließend reihum die Aufgaben des Lehrbuchs lösen mussten. Es gab keine Dialoge, keine Partnerarbeit, keine Unterhaltungen, keine Hausaufgaben, kein Raum für Fragen oder Interessantes. Da unser Lehrer in Deutschland ein Japaner war, hatte ich mich in Japan auf eine ähnliche Unterrichtsform eingestellt.

 

Doch mein Unterricht in Japan ist ganz anders: anspruchsvoll, unterhaltsam und abwechslungsreich. Die Themenbereiche Grammatik, Hörverstehen, Sprechen und Schreiben werden gleichwertig behandelt, neue Grammatik-Problemstellungen gemeinsam erarbeitet und erklärt, danach in Einzelarbeit, in Partnerarbeit und mit abwechslungsreichen Gruppenarbeiten geübt. Am Ende einer jeden Lektion gibt es einen Test, alle 3 Wochen einen offiziellen Test, der entscheidet, ob man in der Stufe bleiben darf oder zurückgestuft wird. Dadurch wird auch genügend Druck erzeugt, damit alle fleißig lernen.


"Onrain Kurasu" (Online Class)

Seit 6. April hat meine Schule als Folge auf den Emergency State den regulären Unterricht gestoppt, aber bietet uns in dieser Zeit gratis Online-Unterricht an. Gratis bedeutet, dass die bereits bezahlten Wochen nach den Online-Wochen in der Schule fortgeführt werden können, also ein sehr großzügiges Angebot meiner Sprachschule.

Der Unterricht findet über Zoom statt, die Materialien erhalten wir über Google Classroom. Der Ablauf ist ziemlich identisch mit dem Unterricht in der Schule: Die gleichen Mitschüler, der gleiche Stoff, die gleiche Geschwindigkeit, die gleichen Tests. Hausaufgaben werden über Google Classroom abgegeben und korrigiert, die Partner- oder Teamaufgaben über Breakout-Sessions per Zoom geregelt.

 

Es ist vielleicht ein bisschen anstrengender, sich so lange auf den Bildschirm zu konzentrieren, und das Schreiben-Üben der Kanjis ist ein wenig umständlicher, aber dafür spart man sich den Weg zur Schule. 


Zusätzlich zum regulären Unterricht steht dann noch Hausaufgaben machen, Vokabeln lernen, Grammatik wiederholen, Kanjis üben usw. an.

 

Insgesamt verbringe ich pro Tag sicherlich 6 Stunden alleine für das Japanisch-Lernen.

 

Aber das war auch so eingeplant, weshalb mich Corona eigentlich zu einem vergleichsweise guten Moment erwischt hat, da meine Hauptbeschäftigung nicht sonderlich beeinträchtigt wird.


Meine Jobaussichten

Durch Corona passiert an meiner Bewerbungsfront aktuell nicht sonderlich viel: Es gibt kaum ausgeschriebene Stellen und die Tourismus-Branche liegt jetzt eh brach. 

 

Statt passender Jobs in Japan konzentriert sich meine aktuelle Jobsuche deshalb im Moment mehr auf Stellenangebote aus Deutschland, die es einem ermöglichen, remote zu arbeiten. Aber ich befürchte, dass diese Stellen gerade besonders beliebt sind, da viele Menschen Arbeitgeber suchen, für die sie von Zuhause aus arbeiten können.

 

Zumindest geht für Arbeiten & Bewerben derzeit nicht so viel Zeit drauf.


To-Do-Listen

Seit wir in unsere japanische Wohnung gezogen sind, führe ich drei fortlaufende To-Do-Listen:

  1. Die "To-Buy-Liste"
  2. Die "To-Do-Liste"
  3. Die "To-See-Liste"

Vor allem Wochenende arbeiten wir daran, die Listen abzuarbeiten (absichtlicher Wortwitz).


1. To-Buy-Liste

Auf der To-Buy-Liste (nicht zu verwechseln mit einer Lebensmittel-Einkaufsliste) landen Dinge, die wir für unsere Wohnung oder unseren Alltag benötigen, die wir aber bei unserer Wohnungseinrichtung noch nicht bedacht hatten, sondern uns erst einfallen, wenn wir sie wirklich benötigen:

  • Salatbesteck,
  • Mülleimer,
  • Handmixer,
  • Karteikarten,
  • Fieberthermometer (da Uli nun täglich seine Temperatur an seinen Arbeitgeber melden muss),
  • ...

Bei gewöhnlichen Dingen, die man in Deutschland ganz schnell besorgt hätte, muss man in Japan oft erst herausfinden, wo man sie herbekommt. Wir bestellen zwar vieles mittlerweile bei Amazon, aber da z.B. Kochlöffel in Japan nicht genutzt werden, findet man bei Amazon Japan auch keine Kochlöffel, die nach Japan geliefert werden.

Viele To-Buys konnten wir dennoch erfolgreich abhaken:

 

Seit ein paar Tagen besitzen wir (juhu!) wieder einen "Roomie" (einen Roboter-Staubsauger der Marke Roomba), der uns den Alltag erleichtert und ...

 

.. wir haben endlich Vorhänge! 

 

Da in unserem Wohnzimmer die ganze Südseite aus Glasfenstern besteht und der heiße japanische Sommer unaufhaltsam näher rückt, mussten wir uns dringend darum kümmern und waren sehr glücklich, diesen Punkt von der Liste streichen zu können!

Andere Dinge wie ein Fernseher oder japanische Messer stehen dafür schon seit Wochen unverändert auf der To-Buy-Liste ...


2. To-Do-Liste

Die Orga-To-Dos, die wir seit unserer Ankunft in Japan zu Hauf hatten, haben wir mittlerweile deutlich reduziert. Wir haben nun beispielsweise ...

  • ... herausgefunden, wie wir unsere Gas-, Strom- und Wasser-Rechnungen bezahlen.
  • ... unsere Schränke sinnvoll eingeräumt (nicht nur die Inhalte der Koffer irgendwo reingepackt).
  • ... den Storage-Raum (ein Raum im Keller des Hauses mit je einem großen Schrank pro Wohnung) gefunden und eingeräumt.
  • ... an unseren PCs und Handys die japanische Schrift installiert.
  • ... Bilder in der Wohnung aufgehängt.
  • ... recherchiert, wie man z.B. den Müll richtig trennt und vieles mehr.
  • ... unsere japanische Kreditkarte in Betrieb genommen.
  • ... unsere Ausgaben seit März erfasst, um ein Gefühl für die Kosten in Japan zu erhalten.
Doch auch diese Liste ist noch nicht abgeschlossen und leider kommen immer noch neue Punkte dazu.

3. To-See-Liste

Die To-See-Liste war mir immer die liebste Liste von den dreien. Hier landet alles, was wir in Japan anschauen und unternehmen wollen, vom Roboter-Restaurant und Minischwein-Café über Ausflugsziele wie Nikko bis zu klassischen Sightseeing-Spots wie dem Tokyo Skytree.

 

Durch Corona mussten wir diese Liste leider auf Halde legen, aber ein paar Unternehmungen waren trotzdem noch möglich, wie beispielsweise den Hie-Schrein zu besuchen, der sich nur 15 Minuten von unserer Wohnung entfernt befindet.


Hie-Schrein: kleine Oase mitten in der Stadt

Der Hie-Schrein (jap. 日枝神社 = "Tag" + "Zweig" + "Gott" + "Zusammenkunft") liegt genau an der Grenze zwischen den zwei Stadtteilen Akasaka und Chiyoda. Auf einer Anhöhe gelegen, ist der Shinto-Schrein von mehreren Seiten mittels Treppen oder Torii-Gängen – Wege mit orangen Toren, die den Übergang zum heiligen Bereich markieren, – erreichbar.


Der Hie-Schrein zählt zu den "Tokyo-Jissha", den offiziellen "10 Schreinen von Tokyo". Diese 10 Schreine sind weder die einzigen 10 Schreine Tokyos noch die bekanntesten oder wichtigsten, aber sie bilden eine Art Netzwerk oder ringförmiger Schutz um alle 23 Bezirke Tokyos, weshalb sie eine besondere Rolle einnehmen.

 

Deshalb steht nun auf unserer To-See-Liste: alle Tokyo-Jissha besuchen. 😁

 

Was ich an unserem Besuch des Hie-Schreins mal wieder so erstaunlich fand: Man befindet sich mitten in der Großstadt zwischen Hochhäusern, Restaurants und Wohngebäuden und steht auf einmal vor einem wunderschönen, individuellen Schrein mit ein paar Kirschblüten-Bäumen – einer kleinen, ruhigen Wohlfühloase mitten in der Großstadt. 


So viel zu meinem 3-Listen-System und den Aufgaben, die uns vor allem am Wochenende beschäftigen.

Also schon mal eine Erklärung dafür, warum in Japan keine Zeit mehr zum Bücher-Lesen bleibt.


Alltagsaufgaben wie Einkaufen & Kochen

Seit dem Ausruf des Emergency States hat sich das Essen mehr in unsere eigenen vier Wände verlagert, vor allem mittags.

 

Und da Uli nicht jeden Mittag eine Noodle Cup und ich Tiefkühl-Gyoza essen kann, kochen wir öfter D.h. wir müssen nun vermehrt, passende Rezepte suchen und die richtigen Lebensmittel finden.

 

Aber entscheidet euch bei diesem Regal mal, welcher Reis ihr kaufen wollt:

 

Und hier, welchen Tofu ihr nehmen sollt:

 

Ihr würdet an dieser Auswahl an Reis und Tofu doch auch scheitern und stattdessen Soba-Nudeln mit Gemüse kochen, oder?


Apropos Soba-Nudeln mit Gemüse:

 

In meinem Rezept für dieses Gericht wurde Mirin (Reiswein) als Zutat verlangt. Ein paar Anläufe hatte ich schon gemacht, um Mirin im Supermarkt zu finden. Aber bisher erfolglos.

 

Da stand ich also mal wieder vor dem Flaschen- und Soßenregal und ging Schild für Schild und Flasche für Flasche durch, um das japanische Wort für Mirin zu finden. Und plötzlich blieb mein Blick an einem Schild hängen, auf dem "これはみりんです" stand. Das heißt wörtlich übersetzt: Das hier ist Mirin. 😂

 

Und ich dachte mir nur: "Danke für den Hinweis! Dich nehme ich mit!"


Freizeitbeschäftigung

Ok, der Rest meiner Zeit bleibt dann wirklich für Freizeitaktivitäten übrig (auch wenn meine Listen, vor allem die To-See-Liste natürlich ebenfalls einen Großteil der Freizeit ausmachen).

 

Meine Freizeit während des Emergency States verbringe ich mit Video-Telefonaten und Online-Kneipen (als Ersatz fürs Freunde- und Familie-Treffen), Yoga, Spaziergängen, am Smartphone lesen, in den Sozialen Netzwerken herumhängen und Serien schauen

Letzteres hält sich aber sehr in Grenzen. Während in Deutschland der Fernseher eigentlich immer lief, wenn ich alleine zu Hause war, haben wir in Japan noch gar keinen Fernsehen und nur vereinzelt Serien am Laptop. Was sich hier definitiv zum Besseren verändert hat, ist, dass Uli und ich hier immer bewusst zu Abend essen und währenddessen keinen Film oder keine Serie anschauen. (Außer, wenn wir Pizza bestellen. Pizza verlangt nach einer Serie.)


Mein Schreiben ist mein neues Lesen

Den Rest der Freizeit, der dann noch bleibt, hätte ich normalerweise ins Bücher-Lesen investiert.

 

Aber diese Zeit stecke ich neuerdings in das Schreiben dieses Blogs: für das Schreiben schaufle ich mir am Wochenende Zeit frei, mit Korrekturlesen verbringe ich den Abend auf der Couch und für das Bilder-Auswählen und -Bearbeiten nutze ich die Zeit vor dem Einschlafen im Bett.

 

Ich liebe es zu schreiben und dabei alles Erlebte zu verarbeiten.

 

In München habe ich jeden Abend Uli von meinem Tag erzählt, er nannte es "Mellis Berichterstatten". Für all die Erlebnisse in Japan reicht das mündliche Berichterstatten aber nicht mehr aus. Diesmal möchte ich diese Zeit längerfristig festhalten.

 

Dennoch vermisse ich die Lesezeit, die noch mal einen anderen Grad an Entspannung als das Schreiben ermöglicht.

 

Und anlässlich des gestrigen Welttags des Buches am 23.4. lasse ich die Schreibfeder dieses Wochenende liegen und werde mit einer Kaffeetasse in der Hand, auf der Couch liegend mein Buch "1Q84" beenden. 

 

Versprochen!


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Kommentare: 1
  • #1

    Mami (Samstag, 25 April 2020 13:35)

    Vom Schreiben haben wir alle was.
    Wir warten schon immer sehnsüchtig auf einen neuen Beitrag.